Lassen Sie mich mit der Schilderung eines Vorstellungsgesprächs beginnen, das eine junge Lehrerin mit dem Schuldirektor wegen ihrer neuen Stelle an der Schule führen sollte.
Als sie die Eingangshalle betrat, stieß sie auf ein Schild mit der Aufschrift:
„Wir sind keine passiven Opfer der Umstände, sondern wir können
bewusste Architekten unseres eigenen Lebens werden“.
(Viktor Frankl)
Was sollte das heißen: Schüler als bewusste Architekten von Schule? Wurde da nicht die Welt auf den Kopf gestellt? Schließlich soll die Schule ihre Schüler auf eine erfolgreiche Karriere in der Gesellschaft vorbereiten und nicht so sehr auf eine Karriere zum Glück.
Der Schulleiter empfing sie freundlich und lud sie in sein Büro ein, das mit seinen klaren Wänden und sanften Farben eher wie ein Meditationsraum aussah, ohne jede Spur von Bürokratengeist. Er war nicht mehr ganz jung, aber mit geistig aufrechtem Gang unterwegs. Er bemerkte mein Erstaunen und lächelte:
„Nun, die Dinge funktionieren hier ein wenig anders, wie man sieht. Aber das war nicht immer so: Vor fünf Jahren führten wir nämlich eine Umfrage unter Abiturienten über den Grad der Zufriedenheit mit unserer Schule durch. Das war schon damals der Trend, denn die Schule versteht sich heute als moderne Dienstleistungsorganisation und formuliert ihre Leitlinien, Vision, Mission, ja sogar ihre Strategie und Einzelmaßnahmen, die alle evaluiert werden müssen. Das haben wir auch gerne gemacht, denn schließlich hatten wir im Abitur hervorragende Ergebnisse erzielt, was war da zu befürchten.
Aber die Umfrage ergab ein niederschmetterndes Ergebnis! Zwar bescheinigten Schüler und Eltern uns Lernfortschritte, eine gute Vorbereitung auf das Abitur, die Förderung von Selbstständigkeit, angstfreien Schulbesuch usw., doch dann kam etwas Unerwartetes:
Sie äußerten sich sehr kritisch über die Prozessqualität an der Schule, z.B. Unterrichtsausfall, die Schüler-Lehrer-Kommunikation, ungerechte Behandlung und ein undurchsichtiges Benotungssystem. Sie hätten sich vor allem mehr Gesprächsbereitschaft seitens der Lehrer gewünscht, eine effektivere und schnellere Reaktion auf Konflikte, eine intensivere Kommunikation mit den Eltern nicht nur an Elternsprechtagen, mehr Möglichkeiten der Mitarbeit an der Schule, vor allem aber eine größere Wertschätzung von Eltern und Schülern.
Auch unser Selbstverständnis als Wissensvermittler im Auftrag des Staates und als Zertifizierer von Lernleistungen wurde erschüttert: Die Eltern unserer Schülerinnen und Schüler erklärten, dass die Wirtschaft der Zukunft neue Anforderungen an die Persönlichkeit und die Fähigkeiten der jungen Menschen stelle, auf die wir mit unserer Prüfungsorientierung und dem „Lernen für Tests“ – manche Eltern nannten dies sogar „Bulimie-Lernen“ – keine adäquate Antwort gäben.
Ein Vater, der in der internationalen Wirtschaft tätig ist, schrieb dort, dass laut einer Studie der Weltbank die heutigen 15-Jährigen später in Berufen arbeiten würden, die es noch nicht gebe: Unsere Curricula müssten also neu geschrieben werden. Er meinte, dass man mit Blick auf die moderne Arbeitswelt sowohl die Potenzialentwicklung junger Menschen als auch ihre „We-Q-Qualitäten“ entwickeln müsse.
Was das betrifft, so hat das staatliche Schulsystem seine Hausaufgaben noch nicht ganz gemacht; außerdem: Die meisten Lehrer haben keine Erfahrung in der Wirtschaft oder als Selbständige. Sie sind von der Schule zur Universität gegangen und vermitteln nun ihr gesammeltes Wissen natürlich mit verschiedenen Methoden, aber die Verbindung zur Arbeitswelt ist sehr schwach, also haben die Eltern da schon Recht.
Da also begann ich, die Schule neu zu überdenken.
Ich nahm Kontakt zu Unternehmensberatern auf, die mich coachten, und entwickelte ein Konzept für das Changemanagement in der Schule. Ich wählte die richtigen Lehrer für einen ‚Qualitätszirkel‘ aus, mit dem ich diese neue Strategie diskutierte. Es wurden viele Gespräche mit Kollegen geführt; man einigte sich verbindlich auf eine achtsame Kommunikation in der Schule; es wurden Schulungen von und für die Lehrer durchgeführt, bis sich langsam das Bewusstsein für den Paradigmenwechsel etablierte. Einige Lehrer, die diesen Prozess nicht unterstützen wollten, verließen die Schule, andere, die es wollten, schlossen sich an, und so entwickelte sich das Konzept in der Praxis immer weiter.
Aber es war nicht leicht, denn unkonventionelle Leute bringen immer Sand ins Getriebe. Zuerst wollte man mich durch eine neue Leiterin ersetzen, aber dann begann man die Tragweite der Reform zu verstehen und dass andere Schulen auch aus unseren Erfahrungen lernen können. Aber das setzte voraus, dass die Akteure in der Schule sich der Fehler des Systems bewusst werden müssen, dass sie Fehler willkommen heißen und ihre Defizithaltung revidieren, dass sie in Konferenzen und im Qualitätszirkel der Schule Evaluationen durchführen und analysieren wollen, um Lösungen zu finden und eine höhere Lernqualität im Unterricht anzubieten.
Was die Qualität unserer Kommunikation an der Schule betrifft, so haben wir von Neurologen wie Gerald Hüther gelernt, der sagte:
„Kinder sind im Alter von 5 Jahren 98% kleine Genies, aber mit 15 Jahren ist dieses Genie auf nur 5% reduziert worden.“ Und er sah die Ursache darin, dass wir Lehrer zu sehr auf das Curriculum fixiert sind und Kinder tendenziell als Objekte behandeln, die mit einem methodischen Impuls Lernaufgaben bewältigen, die wir dann kontrollieren und auswerten.
Dabei kommt zu kurz, was uns die Psychologie Jungs und Frankls bescheinigt, dass jeder Mensch als Subjekt mit dem Bedürfnis ausgestattet ist, sich selbst zu erkennen und beim schulischen Lernen zu verwirklichen. Zudem ist er willens und durchaus in der Lage, weitestgehend die Verantwortung für seinen eigenen Lernweg zu übernehmen.
Wir nehmen also ernst, was uns die moderne Psychologie sagen will: ‚Pädagogen, gebt euren Schülern die Möglichkeit, diese Fragen zu beantworten:
>Wer bin ich und was ist für mich der Sinn des Lebens?
>Wie kann ich mein Potenzial und meine Interessen entwickeln und in die Klasse einbringen?
>Wie kann ich durch den Austausch mit meinen Klassenkameraden und meinem sozialen Umfeld selbstwirksam werden?‘
Für diese Arbeit stehen viele Instrumentarien aus der fortgeschrittenen Psychologie zur Verfügung, z. B. das Enneagramm, das in den Personalabteilungen der Wirtschaft bestens bekannt ist, warum also an den Schulen nicht.
Wenn der moderne Pädagoge bei der Beantwortung dieser Fragen hilft, werden die Schülerinnen und Schüler Vertrauen in sich selbst als Subjekte ihres Lernprozesses finden, denn die Freiheit des Menschen kann nur vermittels Selbsterkenntnis verwirklicht werden. Dies gilt insbesondere für junge Menschen, denn sie sehnen sich nach Wertschätzung und Sinn in ihrem Leben und in ihrem schulischen Werdegang.
Für uns Lehrerinnen und Lehrer bedeutet dies, dass sie ihre Lehrerrolle überdenken müssen und auch die Dinge leichter machen können: Wenn sie sich mit Wissen über die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler ausstatten – und Kenntnis über sich selbst haben -, dann können sie als Lehrerinnen und Lehrer entspannter im Unterricht stehen, die Schülerinnen und Schüler gemäß ihrer persönlichen Neigungen führen, sie als Akteure in ihrem Lernprozess beobachten und sich immer mehr als Tutoren und Lernpartner verstehen.“