Stress und fehlendes Sinnerleben in der Schule – immer mehr Schüler und Eltern klagen über Phänomene am Lernort Schule, die Viktor Frankl als negatives Zeitgeistdenken bezeichnete. Diese existenziellen Fehlhaltungen erklärte er mit dem Phänomen des Konformismus – tun sollen, was die anderen tun, dem des Totalitarismus – tun, was die anderen wollen, und dem Reduktionismus – denken, dass es keine anderen Existenzebenen gebe. (Frankl 1973: 13) Diese Denkweisen haben gemeinsam, dass sie den Menschen zum Reagierenden statt zum Agierenden machen und das Sinnbedürfnis des Menschen leugnen.
Gerade fatalistische Lebenseinstellungen nach dem Motto: „Da kann man ja nichts machen!“ und kollektivistisches Denken, d.h. dass der Einzelne sich der Team-Meinung unhinterfragt unterwirft, verleugnen persönliche Gefühle, Wünsche und Einstellungen. Dass dies ein klinisches Phänomen ist – Frankl bezeichnet es als ‚kollektive Neurose’ (ders. 1993: 192), wird kaum jemandem bewusst, der in den Arbeitsprozess voll eingebunden ist,, da ja alle unter der gleichen psychischen Störung mit persönlicher Beeinträchtigung leiden. Denn versuchen nicht alle, keine Schwächen zu zeigen, immer perfekt zu sein, sich zu beeilen und unter Druck Hochleistungen zu vollbringen sowie nicht aufzufallen und durch emotionales Beziehungsmanagement zu punkten?
Gemäß des neoliberalen Menschenbildes, das mittlerweile alle Lebens- und Arbeitsbereiche beeinflusst, wird der angeblich nur auf seinen persönlichen Vorteil bedachte Mensch, vornehmlich von seiner Vergangenheit, seinen Trieben, seinen Bedürfnissen, seiner psychischen Bedingtheit her gesehen, doch seine geistige Not, sein Hunger nach Sinn, wird ausgeblendet. Ist es verwunderlich, dass solch ein eindimensionaler Mensch ‚existenziell frustriert’ ist (Frankl) ?
Die Eindimensionalität besteht darin, dass der ‚homo oeconomicus’ sich als ein ‚rational’ seinen Nutzen bzw. Vorteil maximierendes Wesen begreift, der den Mitmenschen als bloßes Objekt seines Vorteilsstrebens sieht, womit das Prinzip der Achtung und der Würde des Mitmenschen als Subjekt missachtet und das Miteinander von moralischem Anspruchsdenken befreit wird. Das marktlogische Denken der Wirtschaft hat somit alle Teilbereiche der Gesellschaft unter diese Denkkategorie subsumiert und damit eine Monokultur im Denken verordnet. Wenn dieses einseitige Bild des Menschen, das soziale und humanitäre Dimensionen ausblendet, als einziges postuliert wird, so handelt es sich nach Frankl um negatives Zeitgeistdenken, auf das die eingangs genannten Kriterien ‚Reduktionismus’, ‚Konformismus’ und ‚Totalitarismus’ zutreffen. Gerade durch die besagten Trends in unserer Gesellschaft und insbesondere in konventionell geführten Schulen wird damit der ‚Wille zum Sinn’ unterlaufen, da sich der Schüler letztlich als ‚Objekt’ behandelt fühlt und es entsteht in seiner Wahrnehmung, so Frankl, ein ‚existenzielles Vakuum’, das Gefühl, nicht gemeint zu sein, sodass es eine Motivationsschwäche zur Folge hat. (Frankl 1973:11)
Aber galt nicht Schule lange Jahre als Garant von Zukunft und wie können verdiente Einrichtungen der Gesellschaft unter Generalverdacht gestellt werden, konformes und reduktionistisches Gedankengut zu transportieren und unmotivierte Schüler zu ‚produzieren‘, sodass Schule trotz ihres ehrlichen Engagements für die Zukunft ihrer Schüler ihrer Wirkungskraft beraub wird? Helle Empörung wird sich in Schulleitung und Lehrkörper angesichts dieser Behauptung entfachen, denn dem vorherrschenden Selbstverständnis der Lehrerschaft in staatlichen Schulen wird, Kants Pflichtverständnis gemäß nach Vorgabe eines Gesetzes gehandelt, nach einem vorgefertigten, scheinbar objektiven Maßstab, der für das Wohl des Ganzen gerechterweise verfasst wurde, sodass die Schulbürokratie guten Gewissens zu handeln meint.
Für Schüler und ihre Eltern stellt sich dieses Selbstverständnis heute aber oft als antiquierte Moral des Sollens dar, die Unterwerfung verlangt. Gemessen an einem freiheitlichen Verständnis des Menschen, der aus sich selbst schöpft, selbst bestimmend handelt, hat sich ‚das Gesetz’ überlebt und ist in seiner Abgehobenheit, weil seine Maßstäbe/Kriterien oft nicht mehr vermittelbar sind, sinnlos geworden. Wird dennoch auf seine Beachtung gepocht, wird Schule als aggressiv erlebt, ohne Liebe und Vertrauen in den Menschen, der sein darf, wie er werden will, der sein Potenzial entwickeln will. So entstehen, wie gesagt, Depression, Schulverweigerung und -versagen. Das Lernen wird stumpf, sinnlos, dient nur noch dazu, im Notensystem Oberwasser zu halten, um Bildung- und Berufschancen sowie Teilhabe an der Gesellschaft zu erlangen.
Dabei ist lebendiges Sein, Lernen nur auf der Basis von Offenheit, Resonanzfähigkeit, möglich, einem Verständnis von Bildungsqualität, wie sie mit einer Kultur der Aufmerksamkeit realisiert werden kann. Dieser Paradigmenwechsel in Schulen wäre geeignet, die o.a. hemmenden Einstellungen, die sich auf die Selbstmotivation und Lernleistung qualitätsmindernd auswirken, die Eigeninitiative, verantwortliches Handeln, Engagement und Sinngebung wie unter einer Glasglocke ersticken, zu neutralisieren, alte Stressmuster abzubauen und den Schüler dahin zu orientieren, sich weniger in der Opfer als in der Schöpferrolle wohl zu fühlen. Dieser Perspektivwechsel sollte gerade für Pädagogen von Wichtigkeit sein, denn laut Frankls Motivationstheorie korrelieren die genannten existenziellen Fehlhaltungen negativ mit dem Sinnerleben an Schulen und je stärker diese ausgeprägt sind, desto geringer ist die Motivation. (vgl. Graf 2007) Wie oft bemühen sich Lehrer redlich, Schüler zu motivieren – doch wie viel einfacher wäre es, das Sinnerleben der Schüler zu erhöhen und ihnen die Möglichkeit zu geben, Verantwortung zu übernehmen! Diese Art der Motivationsförderung wäre nachhaltig! Ein ganzheitlicher, sinn- und wertorientierter Denkansatz wird daher in der Schule benötigt, damit Schüler wieder zum Agierenden werden, dem es auf sein „wirkliches Gewissen“ (ders. 1993: 192) ankommt. Hier seien zwei Kennzeichen von Sinn- und Wertdimension genannt, die operativ am Schulort Form annehmen sollten und die, wie dies in dem vorliegenden Buch geschieht, in die Qualitätskriterien der Achtsamkeitskultur Eingang finden:
1. Lehrer sowie Schulleitung sollten für sich und ihre Schüler Entfaltungsmöglichkeiten entdecken und ihnen Raum geben, damit die fachlichen Fähigkeiten und Ressourcen aller Akteure optimal in die Gestaltung der Arbeitsprozesse integriert werden können. Organisatorische Demotivatoren werden in einer positiven Fehlerkultur konsequent beseitigt.
2. Lehrer und Schulleitung sollten soziale Anerkennung in produktiver Teamarbeit und dem Gefühl leben, für ein gemeinsames Ziel zu arbeiten. Dazu gehört auch, Ansätze von Schlechtreden und -handeln entschieden entgegen zu treten, denn wen wundert es, dass unter den Schülern Mobbing herrscht, wenn die Schulleitung und das Lehrerkollegium selbst von diesem Bazillus befallen sind. Diese Neuorientierung am Lernort Schule muss eine Brückenfunktion für die zu vermittelnde Fachkompetenz darstellen, um ein Maximum an seelischer Gesundheit in Sinn- und Wertorientierung als Leitmotiv von Schule zu garantieren. So gilt Frankls Aussage ganz besonders für das Schulleitung und die Lehrerschaft: „Es gibt nichts in der Welt, was so sehr imstande wäre, einem Menschen über innere Beschwerden oder äußere Schwierigkeiten hinwegzuhelfen, wie das Wissen um eine spezifische Aufgabe, das Wissen um einen ganz konkreten Sinn, nicht im Großen seines Lebens, sondern hier und jetzt, in der konkreten Situation, in der er sich befindet.“ (Frankl 1991: 26)
Doch eine bloße Absichtserklärung reicht für den Paradigmenwechsel nicht, denn unser Ego kann diesen Trend fast perfekt imitieren und es bedarf einer systematischen Praxis der Selbstbeobachtung, sowohl individuell als auch als Gruppe, d.h. Supervisoren als Begleitung, um Rückfälle in alte Denkmuster zu vermeiden. Denn zwar möchten wir unser Denken verändern, doch fallen wir schnell wieder in die Routine zurück, verschieben den Neubeginn gern auf morgen oder sehen so viel Hindernisse und Widrigkeiten auf dem Weg, dass wir es beim Alten lassen. Dabei wissen wir, dass, so bewies es die Quantenphysik, dass wir ein Potenzial der unbegrenzten Möglichkeiten zur Verfügung haben und unser Denken und unser Wille unser Schicksal verändern können. Warum wiederholen wir dann ständig dieselben Handlungen, erwarten aber ein anderes Ergebnis? Weil wir in einem alten Handlungsmuster gefangen sind, das uns unser Gehirn als Abbild des Vergangenen automatisch widerspiegelt, da wir aus einem begrenzten Reservoir von Schaltkreisen infolge unserer Erfahrungen bestehen; diese verweigern sich dem Neuen, lehnen es ab und lassen uns ins Scheuklappendenken verfallen, d.h. aber, dass wir nicht mehr wirklich lernen. Wenn Lernen aber heißt, neue synaptische Schaltkreise zu entwickeln, neue Erfahrungen zu machen und ein neues Denken zu üben, so verändert das den Menschen. Daher sind Visionen immer wieder wach zu rufen und vermittels einer Selbstbeobachtung muss der Weg dorthin erneut ausgerichtet werden, denn unerkannt wird das alte Muster zu einem gefährlichen Gegner. Dabei kann uns eine Kultur der Aufmerksamkeit die Gelegenheit der Selbstevaluation und Orientierung verschaffen.
Will die Lehrerschaft also Qualitätssteigerung durch Motivation und Begeisterung im Lernen durch einen Paradigmenwechsel erreichen, so benötigt ihre Bildungseinrichtung auch Modelle und Verfahren zur Operationalisierung und Messung ihrer Dienstleistungsqualität. Zwar liegen verbindliche Qualitätsmaßstäbe seitens der Regierungen vor, nämlich die Vorgaben, EPAS, Merkmale guten Unterrichts für die Lehrerausbildung, das Leitbild der Schule, der Leitfaden für die Schulinspektion sowie Zielvereinbarungen des KM mit dem Schulleiter. Dennoch sollen auch die kritischen Kommentare und Analysen zur deutschen Schulqualität nicht unerwähnt bleiben, die besagen, „dass man von einer eigenständigen Forschungsdisziplin Schulqualität nicht sprechen kann, dass es enorme Theoriedefizite gibt und dass der Begriff Schulqualität vage ausfällt, für unterschiedliche Zwecke benutzt wird und bis heute nicht klar definiert ist.“ (van Buer/ Wagner 2007: 47) Folglich gebe es in Deutschland bisher weder eine Wirksamkeitsforschung noch eine Schulqualitätsforschung. (ebenda: 51) Aber Potenzialentwicklung für Schüler braucht auch Bildungssysteme mit hoher Prozessqualität und ein Schulmanagement, das über den Tellerrand der Ergebnisqualität hinaussieht und dem es mittels einer Selbstevaluation gelingt, seine Organisationsentwicklung zu optimieren. Ausgehend von einer Absolventenbefragung wird in der vorliegenden Arbeit gezeigt, wie Defizite durch die Kombination quantitativer und qualitativer Erhebungen zu Akteursszenarien feststellbar sind und welche Maßnahmen zur Schaffung einer ‚Organisationalen Achtsamkeit’ ergriffen werden können.
Die Verfasser sind Lehrer und Absolventen des Masterstudiengangs ‚organisation studies’ der Stiftungsuniversität Hildesheim, aus deren Masterarbeit zur Zufriedenheit der Absolventen eines beruflichen Gymnasiums diese Studie hervorgegangen ist. Nachdem sie den Praxistest bestanden hat, möchten sie anderen Akteuren im Bildungswesen ihren Beratungsansatz weitergeben, ohne den Anspruch zu erheben, der einzige oder einzig richtige zu sein. Wobei kann er behilflich sein? Mit seiner Hilfe können Stärken und Schwächen in den Akteursszenarien einer Bildungseinrichtung ermittelt werden, um daraus Verbesserungsvorschläge für eine systemische und achtsame Organisationsentwicklung und eine erhöhte Prozessqualität abzuleiten.
Bevor die Werkzeuge der Praxiswerkstatt angewendet werden, ist die aus den einzelnen Bausteinen bestehende ‚Architektur’ theoretischer Bausteine, also der konzeptionelle Rahmen einer Systemkultur der Achtsamkeit, als integrierendes ‚Modell’ vorzustellen, das die Mehrdimensionalität und Komplexität von Organisationsentwicklung zu berücksichtigen versucht. Danach geht es konkret um die Bewertung des Leistungserstellungsprozesses im Unterricht mittels der Methode der internen Selbstevaluation, die in zwei Schritten verfährt, nämlich durch eine Vorstudie und einen teilstandardisierten Fragebogen zur Zufriedenheit von Schülern. Das Ergebnis ist nicht primär für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern ist Gegenstand der zu optimierenden Schulkultur im Lehrerkollegium. Um diesen Prozess der systemischen Organisationsberatung entsprechend zu unterstützen, werden ergänzend Leitfrageninterviews von Eltern, Lehrern und der Schulleitung empfohlen, Stärken- und Schwächen ermittelt, aus denen heraus mit Hilfe von Konzepten des strategischen Managements von Unternehmen, u.a. eine Vision und Mission bis hin zu einzelnen Maßnahmen, ein Changemanagement entworfen werden kann.