Oft muss man das Rad nicht neu erfinden, sondern einfach mal zuhören, was unsere Sprache uns zu sagen hat:
Unter ‚bilden‘ verstand man nämlich im 18. Jhd. das ‚Hervortreiben und Gestalt- annehmen des Seelischen bzw. eines inneren Kerns‘ eines als Fraktal des Göttlichen verstandenen Wesens, in dem die Potenziale eines einzigartigen Wesens bereits angelegt sind. Dabei wurde dem Menschen als geistiges Wesen die Fähigkeit des Denkens und der Erkenntnis zuerkannt, sodass er in der Lage sei, sich von Glaubenssystemen zu befreien und selbst zum Architekten seines Lebens zu werden. (Präformationslehre von Herder, Lessing, Leibniz, Humboldt, Goethe mit ihrer pantheistischen Weltanschauung)
Der zweite Begriff, nämlich ‚wissen‘, verweist auf einen gewissen Kenntnisstand. Das ‚Erkennen‘ schließlich meint einen selbst vollzogenen, eigenständig konstruierten Erkenntnisprozess, der nachhaltig wirkt.
Zu guter Letzt bezieht sich das ‚Begreifen‘ auf einen handlungs- und erfahrungsorientierten Bildungsweg und das ‚Verstehen‘ bezeichnet das Ergebnis des Bildungsprozesses mit dem Sprachbild ‚stehen‘, mit dem sich das Subjekt eine Ausgangsbasis für seinen Gestaltungsprozess, für sein Handeln, schafft. So liefert uns unsere Sprache die Definition von Bildung frei Haus.
Was folgt nun daraus?
Es folgt daraus, dass das Kind im Bildungsprozess Subjekt seiner Potenzialentfaltung ist, was durch die angeborene Freude des Kindes am Lernen belegt werden kann, da es in den ersten 3 Lebensjahren die ungeheure Kulturleistung vollbringt, von sich aus eine Sprache mit ihrer Komplexität (Prosodie, Semantik, Syntax usw.) zu erlernen, sich von einem Säugling zu einem eigenständigen, persönlichen ‚Ich‘-Wesen mit aufrechtem Gang zu entwickeln usw.
Das wiederum beweist neurobiologisch gesehen, dass nicht, wie bei der Einführung des Bildungssystems im 19. Jahrhundert angenommen, genetische Programme für die Entwicklung des Kindes verantwortlich sind, sondern dass
individuell stattfindende Vernetzungs- und Signalmuster im Hirn sukzessiv die einzigartige Persönlichkeit strukturieren, sodass das Kinde aus sich heraus zum Gestalter seines Lebens wird.
Diese neurobiologische Leistung zeugt von einem innewohnenden Potenzial, das dem Menschen wesentlich eigen ist, abgeleitet vom Sanskrit ‚mens‘ = Geistmensch. Somit enthält das Deutsche als indogermanische Sprache bereits ein spirituelles Menschenbild sowie alle Begrifflichkeiten, die den Bildungsprozess des inkarnierten Menschen ausmachen. Wir halten also fest:
Der Schüler ist ein lebendiges System
➢ Ein kreatives Wesen mit innerer Freiheit, die ihn zum Denken,
➢ zum Gestalten seiner Umwelt und seines Lebensweges in
➢ Verantwortung für sich und andere befähigt.
Ist das hierarchische Bildungssystem noch zukunftsfähig?
Wenn wir akzeptieren, dass sich unser Menschenbild gewandelt hat und wir die erfolgreiche Kulturleistung des ‚lebendigen Systems‘ Mensch bis zu seinem 3. Lebensjahr anerkennen, dann ergibt sich daraus, dass diese Begeisterung für das Lernen als subjektiver, selbst gesteuerter Prozess erhalten und unsere Didaktik und Methodik in den Dienst der Potenzialentfaltung der Kinder gestellt werden muss. Sie wird dann im nächsten Schritt durch Mitlerner und Mentoren, die eine würde- und wertschätzende Gemeinschaft zu ihrem zentralen Anliegen machen, zu einem systemischen Organismus erweitert. Damit stünde ein hierarchisches Bildungssystem in Widerspruch, denn jetzt gilt nicht nur eine Wahrheit (die des Lehrers, die des Staates), sondern es gelten viele Wahrheiten (die jedes Schülers) und wenn sie miteinander in Beziehung treten, bildet sich ein lebendiger Organismus. Daher muss die freie Entwicklung der Persönlichkeit auch mit Verantwortung für den Mitlernenden einhergehen, d.h. mit Selbstreflexion und Respekt für die jeweiligen persönlichen Grenzen aller Akteure.
Muss sich auch das Selbstverständnis der Mentoren und Eltern ändern?
Wenn wir von einem ‚lebendigen System‘ in einem ebensolchen Organismus sprechen, dann sind Eltern und Mentoren ebenfalls ‚lebendige Systeme‘ und ihre pädagogische Aufgabe wandelt sich zu der eines Lern- bzw. Entwicklungshelfers.
Die Lehrenden sind mit ihrer Liebe zum jungen Menschen konsequent dem Dienst dieses Entfaltungsprozesses verpflichtet und nicht befugt, den Lernenden zum Objekt ihrer Erwartungen, Bewertungen und Maßnahmen zu machen, da kein Mensch über den anderen Deutungshoheit hat und der Lehrende in seiner Aufgabe authentisch bleiben und nicht durch Benotungen als Bewerter und Selektor in Widerspruch zu seiner Aufgabe als Pädagoge geraten und in den Augen der Lernenden unglaubwürdig werden sollte.
Die Abprüfung der Lernerfolge findet daher getrennt von dem Lernprozess durch moderne Testverfahren statt.