mehr Phantasie

Der gefesselte Mensch (eigenes Foto) Museum Cádiz, 2010.

„Mein Kind hat ADHS“ – ja, das kommt ja heute öfter vor, aber was haben wir Eltern und Lehrer damit zu tun? Sehr viel: Junge Menschen halten uns heute nämlich einen Spiegel vor, in dem wir Erwachsene uns alle selbst wiederfinden können und in dem sich die Gesellschaft widerspiegelt.

Warum? Weil wir in einer Gesellschaft der Massenmedien und der Informationsflut leben, mit dem Computer als Uhrwerk: Unsere Aufmerksamkeit wird von den bildgebenden Maschinen absorbiert, so viele Kinder haben das seit ihrer Kindheit erlebt.

Bilder treten an die Stelle geschriebener Texte, die man früher noch las; ein Bild reiht sich an das nächste, mit immer schnelleren Bildfolgen, doch an den spannendsten Stellen wird wegen eines Werbeblogs unterbrochen; dann geht es weiter: jedes Mal, wenn die Spannung steigt, kommt der nächste Blog, bis man aufgibt, weil man erschöpft ist. Dabei wird der Faden des Denkens, der Spannungsbogen immer wieder unterbrochen, das prägt sich wie ein Fingerabdruck in unser Gehirn ein.

 

Und was ist die Folge für den Schriftspracherwerb? Was früher im Kino ein Riss im Zelluloid eines Films war, der plötzlich verschwand und kurz darauf weiterlief, ist heute in der Kommunikation ganz normal: Erwachsene und Kinder schreiben oft in Wortfetzen, die einer nach dem anderen zusammengefügt werden müssen, um sie zu verstehen. Gedankliche Strukturierung von Texten, wie z. B. bei Argumentationen mit ihrem Schema ‚These – Begründung – Beleg – Gegenthese‘ usw., sucht man dort vergeblich. Mit dem Verfall der Sprachkompetenz reduziert sich offensichtlich auch die Denkfähigkeit.

Wie könnte man hier Abhilfe schaffen? So zumindest erst mal nicht: Eine Studie an der Universität von Valencia hat neulich nachgewiesen, dass wir informative Texte schlechter verstehen, wenn wir sie auf digitalen Medien konsumieren; außerdem erlaubt uns das schwindelerregende Tempo, mit dem wir an das Lesen gewöhnt werden, nicht, anzuhalten und den Text tiefer zu erfassen und wirklich zu verstehen, was wir lesen. Daher führt das Projekt „Ein Laptop pro Kind“ auf der ganzen Welt dazu, dass Schülerinnen und Schüler Texte oberflächlicher lesen und immer weniger wirklich verstehen. (siehe: „El País, 24. Mai 2020, S. 6) Von daher wäre der geschriebene Text, das gute alte Buch anzuraten.

Außerdem sind wir viel zu sehr mit Multitasking beschäftigt, was unsere Kinder sich selbstverständlich abgucken: Wir sehen einen Film, ordnen Papiere, das Smartphone klingelt und wir telefonieren. Wir lassen die Arbeit liegen, die wir gerade tun, weil dem Anruf dringlich entsprochen werden muss… Wir sehen: Die Konzentrations- und Aufmerksamkeitsschwäche herrscht allgemein vor, und wen wundert’s, dass Kinder und Jugendliche, die sich noch in der Entwicklung befinden, an ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) leiden.

Daher meine ich: Junge Menschen spiegeln uns heute nur unser eigenes Verhalten; sie halten uns einen Spiegel vor, in dem wir uns alle selbst sehen können, in dem sich die Gesellschaft widerspiegelt. Aber wir wollen uns darin nicht selbst betrachten: Was wir als Erwachsene tun, erscheint uns richtig und geht nicht anders und wenn Kinder unruhig werden, diagnostizieren wir ein Krankheitsbild ihres Aufmerksamkeitsdefizits, indem wir es etikettieren und uns von dem Problem distanzieren, damit wir es – ohne schlechtes Gewissen – behandeln können. Dann geben wir ihnen Ritalin, denn das ist das, was uns oft empfohlen wird, und so ‚beruhigen‘ wir sie. Das Problem ist gelöst, oder? Aber seien wir ehrlich: Es wird doch bloß aufgeschoben und ausgeblendet?

Und wie gehen Pädagogen damit nun in der Schule um?

Wenn wir in einer Kultur des Aufmerksamkeitsdefizits leben, die ein allgemeines Phänomen ist, dann muss die Therapie auch eine soziale Aufgabe sein, d.h. wir müssen sie als Aufgabe sowohl für die Schule als auch

für das Elternhaus betrachten, für das gesamte soziale und kulturelle Umfeld des Schülers und Gegenmaßnahmen ergreifen:

Wir sollten versuchen, günstige Lernbedingungen zu schaffen: Multitasking muss verbannt werden, genau wie Smartphones, die Kinder an der Schultür abgeben – so wie das in Frankreichs Schulen üblich ist. Was soll Ihnen denn passieren, da die Lehrer eine Aufsichtspflicht haben, und wir brauchen Kinder, die mit beiden Beinen auf dem Boden stehen, keine Zombies.

Die meisten Eltern verstehen diese Maßnahme in der Regel, da sie sie aus eigner Erfahrung kennen: Wenn sie ein Verbot von Smartphones an ihrem Arbeitsplatz akzeptieren müssen, weil der Chef keine Ablenkung will, dann ist dies in der Schule leichter durchzusetzen.

Ach ja, und nachdem Eltern erfahren haben, dass Silicon-Valley-Promis ihre Kinder für viel Geld in private Waldorfschulen schicken, weil dort in Sacramento elektronische Medien nicht erlaubt sind, hat sie das zum Nachdenken gebracht.

Die Aussagen von Steve Jobs liegen uns schriftlich vor:

Überraschendes aus Silicon Valley

(Die Welt, 08.04.2015)

Ende 2010 führte der Gründer, Präsident und Gründer von Apple, Steve Jobs, einen seiner regelmäßigen persönlichen Anrufe bei einem Reporter durch, um sich über die Berichterstattung über die Produkte des Unternehmens zu beschweren. Der Ansprechpartner des Telefongesprächs von Jobs – zu dessen Tugenden Freundlichkeit nicht gehörte – war Nick Bilton von der New York Times. Am Ende des Gesprächs versuchte Bilton, das Gespräch persönlicher zu gestalten:

– Ihre Kinder müssen das iPad ja lieben.

– Sie haben es nie benutzt. Wir schränken den Zugang der Kinder zur Technologie stark ein.

(Als Jobs 11 Monate später starb, gab Barack Obama eine Erklärung heraus, in der er zu dem Schluss kam: „Es gibt keinen größeren Tribut an Steves Erfolg, als dass ein Großteil der Welt von seiner Weitergabe eines von ihm geschaffenen Geräts erfährt.“ Paradoxerweise konnten die Kinder von Jobs diese Geräte nicht benutzen.)

Der Gründer von Apple hatte eine komplizierte Persönlichkeit. Aber seine Einstellung zur Verbrauchertechnologie ist im Silicon Valley nicht ungewöhnlich. Laut Bilton können die beiden Söhne des CEO von Twitter, Dick Costolo, elektronische Gadgets nur dann uneingeschränkt nutzen, wenn sie sich im Wohnzimmer befinden. Derselbe Journalist zitierte in der New York Times die Maxime von Chris Anderson – ehemaliger Direktor des Technologiemagazins Wired und CEO der Drohnenfirma 3D Technologies – mit seinen beiden Söhnen:

„Im Schlafzimmer ist nichts mit Bildschirm erlaubt. Punkt.“

Nach Meinung einiger Führungskräfte im Silicon Valley sollte Technologie also wie Alkohol eingesetzt werden: in Maßen. Denn letztendlich schafft sie Sucht und verringert die Aufmerksamkeitsspanne sowie die verbalen und schriftlichen Kommunikationsfähigkeiten.

Eine der exklusivsten Schulen im Silicon Valley, die Waldorfschule der Halbinsel, lässt in ihren Einrichtungen keine elektronischen Geräte zu und rät sogar davon ab, dass Kinder und Jugendliche sie zu Hause oder bei Freunden benutzen.

Diese Waldorfschule – dessen jährliches Schulgeld 20.500 Euro beträgt – hat unter ihren Schülern den Sohn des Technikchefs des Online-Auktionsriesen eBay, sowie Führungskräfte von Google, Apple, Yahoo oder Hewlett-Packard, so berichtete die New York Times.

Was soll man davon halten? Haben die Chefs von Silicon Valley wirklich ein gesundes Interesse an der Balance zwischen virtuellem und realem Leben? Oder handelt es sich um eine Heuchelei der Firmenchefs, die doch dank der ständigen Präsenz des Internets im Leben ihrer Konsumenten zu Milliardären geworden sind? Oder aber das Silicon-Valley ist ein Ort Wahnsinniger mit einer Vorstellung von Normalität, die anders ist als beim Rest der Welt, – was übrigens die Tatsache beweist, dass etwa 76% der Waldorfschüler nicht geimpft sind, weil Impfungen laut ihrer Eltern Autismus verursachen soll?

Die Debatte ist offen. Es stimmt, dass es Steve, wie sich der Job-Biograf Walter Isaacson erinnert, „trotz seiner Krankheit und der Führung des erfolgreichsten Unternehmens der Welt gelungen ist, in seinen letzten Jahren praktisch jeden Abend mit seiner Familie zu Abend zu essen.“ – und dass die ganze Familie ohne iPad oder iPhone zu Abend aß.

Aber es ist auch wahr, dass Jobs bei keinem Apple-Produkt die Empfehlung„Konsum in Maßen“ vermerkt hat. Hätte er das getan, wäre Apple vielleicht nicht das beste und profitabelste Unternehmen der Welt geworden.

PABLO PARDO / Washington

 

„Wenn die Kinder älter sind,“ sagte Jobs, „dann können sie mit der modernsten Version beginnen, aber bis dahin haben sie Zeit für etwas, das früher ‚Kindheit‘ genannt wurde, und das heißt: in einem geschützten Raum in Ruhe und mit viel Freiheit ihre Potenziale und ihre Kreativität zu entwickeln.

Einem aufmerksamen Beobachter kann es nicht entgehen: Die meisten Kinder sind durch das Multitasking in den überdimensionierten Räumen der modernen Schulen überfordert, dazu kommen die vielfältigen Beziehungen in zusammengesetzten Familien oder der ständige Wechsel des Wohnortes, der mit viel Unruhe und Stress verbunden ist, zumal die meisten von ihnen bereits in Städten mit Umwelt-, akustischen und elektromagnetischen Problemen leben.

Deshalb sollten wir in die Schulen viel Ruhe bringen und Überreizung vermeiden, in Verbindung mit der Natur Vertrauen durch klare Beziehungen zu Bezugspersonen und zu den Lehrern schaffen, d.h. es sollte ein geschützter Raum gestaltet werden, in dem der Lehrer ein Vorbild und auch eine Autoritätsperson ist. Dies sind zunächst einmal die Voraussetzungen, um „Authentizität“ zu entwickeln und zum Kapitän der eigenen Psyche zu werden. Und vor allem: Kinder brauchen eine Vision, eine Zukunft und einen Sinn im Leben!

Abschließend noch Empfehlungen von Wissenschaftlern:

Weniger Bildschirm, mehr Phantasie: 

Neue Studie über die Auswirkungen der Mediennutzung (07.05.2020)

info@waldorf.ideenpool.de

Stellen Sie sich eine Blumenwiese an einem sonnigen Tag vor: Hören Sie das Zwitschern der Vögel, riechen Sie den Duft von Kräutern und sehen Sie die Farbtupfer auf dem grünen Gras.

Pädagogen an der Universität Regensburg haben untersucht, wie der Bildschirmkonsum zu Hause die Entwicklung der imaginativen Fähigkeiten bei Kindern beeinflusst. Die von der Software AG Foundation (SAGST) geförderte Studie fand heraus, dass wenn Kinder viel Zeit vor dem Fernseher, Tablet oder Smartphone verbringen, ihre Fähigkeit, Bilder vor ihrem geistigen Auge zu sehen, vermindert ist.

Sowohl für Kinder als auch für Erwachsene ist die Vorstellungskraft eine wichtige Komponente der kognitiven Funktionen wie Denken, Problemlösung, Sprache und Vorstellungskraft, denn sie beruht im Wesentlichen auf realen sensorischen Erfahrungen. Bildschirme hingegen vermitteln fast ausschließlich visuelle und auditive Erlebnisse. Dies gilt insbesondere dann, wenn wir sie zum Bild- oder Filmkonsum nutzen, denn die hier vermittelten Reize und Eindrücke werden dem Betrachter bereits „vollständig“ vermittelt: „Je weniger Übung die Kinder in der Erschaffung eigener innerer Bilder haben, desto schwieriger ist es für sie, ihre Phantasie zu entwickeln“, fasst Elke Rahmann zusammen.

Interessant sei, so der Projektleiter bei SAGST, dass dies auch für vermeintlich aktive Medien wie Smartphones, Tablets oder PCs gelte. „Dieses zentrale Ergebnis der Studie“, betont er, „steht im Einklang mit den Beobachtungen auf dem Gebiet der Waldorfpädagogik, die eine umfassende Sinnesentwicklung als entscheidende Grundlage für eine gesunde Erziehung ansieht.“

Die für die Studie verantwortlichen Wissenschaftler, Dr. Sebastian Suggate und Dr. Philipp Martzog, raten daher auch zu einem vorsichtigen Umgang mit digitalen Medien und zu mehr Kompensationstätigkeit. „Im Allgemeinen“, stellen die Professoren klar, „ist es wahr, dass Bildschirmmedien die gesprochene Sprache oder das Vorlesen nicht ersetzen können. Und Kinder brauchen auch reichlich Gelegenheit, in der dreidimensionalen Welt kreativ zu sein und mit allen Sinnen eine Vielzahl von Erfahrungen aus dem wirklichen Leben zu machen“, sagen die Lehrerinnen und Lehrer und verweisen Skeptiker darauf, dass „die vollständigen Ergebnisse der Studie in der Zeitschrift Developmental Science“ zu finden sind.

(Suggate, S., und Martzog, P.: Der Einfluss der Bildschirmzeit auf die geistige Bildperformance von Kindern)